Denkzettel: Hurra, ich gendere!

„Für mich ist das Ganze mit dem Gendern nichts mehr”, dachte ich mir als alter weißer Mann von immerhin 70 Jahren. Zwar lernte ich ein paar Standard-Regeln, Doppelpunkte, Sternchen und das Wort „Gibraltierende“ für die Einwohner Gibraltars, aber ich vermochte den Sinn des Ganzen anfangs einfach nicht zu erkennen.

Wie töricht ich doch war!

Meine Erkenntnis begann im Parkhaus einer Shopping Mall in Berlin. Zahllose, offenbar grüne Familien mit „Baerbock-Fähnchen“ am Einkaufswagen, schwärmten von und zu ihren SUV’s, um diese mit Notvorräten vor dem Lockdown Nr. 5 wegen der siebten Corona-Welle zu füllen: Kartoffelsäcke voller glutenfreier Nudeln für den kleinen Hunger, garantiert veganfreie Steaks vom Biorind, ein paar Liter Klosterfrau-Melissengeist als alkoholischer Notvorrat und eine Palette Masken als Schutz vor Omi, Hund, Lehrern und unmittelbarer Polizeigewalt gehören schließlich in jeden guten Haushalt.

Die Konsequenz allerdings: die Parkplätze waren allesamt besetzt.

Und da sah ich sie: zwei breite, freie Parkflächen, gekennzeichnet als „Frauenparkplatz“. Erstmals horchte ich nun tief in mich hinein, und eine Stimme sagte mir: „Du bist eine Frau. Lass dich nicht durch deinen Körper täuschen. Nimm dir dein Recht!“

Ich beschloss, auf meine innere Stimme zu hören und parkte in einen der beidem Frauenparkplätze ein. Sehr zum Unmut allerdings eines etwas bildungsfern wirkenden Parkhauswächters mit Berliner-Bär-Amtsbinde, der dann auch sofort auf mich zu stürmte, und mich seiner Autorität bewusst vom dem mir zugedachten Parkplatz zu vertreiben gedachte.

Lassen Sie es sich erklären, guter nicht menstruierender Parkwachender“, versuchte ich ihn beschwichtigend und zudem gendergerecht zu mäßigen, „ich bin eine wunderhübsche 29-jährige Koreanerin, gefangen im Körper eines 70-jährigen weißen Mannes. Genau für mich wurden diese Parkplätze hier geschaffen!“

Er wollte es nicht verstehen. Im Gegenteil, er versuchte offenbar rasend feminophob, mich zu verjagen. Umstehende wurden aufmerksam. Ich erklärte ihnen kurz und mit etwas Verzweiflung in der Stimme den Irrtum der Natur, dem ich zum Opfer gefallen war, und schleuderte am Ende dem rabiaten Parkwächter anklagend das alles befreiende Zauberwort entgegen: „Du Nazi!“.

Jetzt verstanden die Umstehenden! Hier war Solidarität und Zivilcourage gefragt. Mit dem Ruf, „Was machst du Rassist mit der netten jungen Asiatin“ stürzten sich mutige Passant*innen auf die offenkundig rechtsradikale Ordnungskraft*in. Der versuchte, sich hakenschlagend wie ein Feldhase vor den nunmehr moralisch motivierten Häschern in seine Dienststube und damit in zumindest vorläufige Sicherheit zu bringen.

Vergeblich!

Im Stil eines Berliner Polizisten stellte ihm ein aufrechter Verfolger*in ein Bein, und der Nazi-Wächter*in fiel schwer und lang zu Boden. Einige besonders beherzte Demokraten, sie trugen am Revers das „Eiserne Söder-Kreuz mit Impfnadel“, stürzten sich mit gekonnten Faustschlägen auf ihn, während andere sofort einen Ring um den Ort der Maßregelung bildeten, um Beweis-Videos zu verhindern. Alle hatten wohl Berliner Polizeiausbildung.

Ich jedenfalls machte mich still und leise davon. Was aus diesem Nazi wurde, weiß ich nicht. Jedenfalls aber geschah es ihm Recht, dem Frauenhasser.

Meine Erfolgsserie als Koreanerin hielt indes an. Ein Bedürfnis trieb mich auf das stille Örtchen. In der Damentoilette erhob ich warnend und durchaus auch fordernd meine Stimme und fragte, wo denn nun das Urinal für mein „kleines Geschäft“ sei. Die Toilettenfrau verstand nicht.

Aber auch hier wirkte der Ausruf „Nazischlampe, Rassistin“ Wunder. Sechs Toilettentüren öffneten sich fast gleichzeitig und heraus traten Unterstützter*innen, die der nun aktiv werdenden Reinigungskraft bei ihren längst fälligen Maßnahmen zur Seite standen. Die benachbarte Männertoilette wurde geräumt, und Absperrbänder wurden angebracht, um mir als Koreanerin mit Migrationshintergrund für einige Minuten den exklusiven Zugang zu den Pissoirs nicht menstruierender Einkaufender zu gewähren. Ein älterer weißer Mann drückte sich an uns vorbei. Ihm war offenkundig peinlich, dass sich vor der für ihn nun geschlossenen Toilette langsam das linke Hosenbein einnässte.
.
Begleitend von teils applaudierenden, teils vor Rührung weinenden Genderist*innen zog ich weiter.

In der Spielecke für Kinder rissen sich gerade zwei streitende Mütter – oh, Entschuldigung: zwei streitende menstruierende Elter 1 – gegenseitig die Haare aus im Kampf um ein blondes Kind. Beide behaupteten, das Kind sei dass ihre, wobei beide sich als Beweis auf die blauen Hosen und das karierte Hemd beriefen. Das Gesicht konnte zur Beweissicherung indes nicht herangezogen werden, da es mit einer FFP2-Maske, zusätzlicher grüner Alltagsmaske sowie einem reflektierenden Plastik-Gesichtsschutz vollständig verdeckt war. Die nicht menstruierenden Elter 2 (früher genderfeindlich genannt „Väter“) feuerten derweil ihre Ehepartner*innen mit Ratschlägen zur Kampftechnik an.

Das Kind weinte. Ich beschloss, nach Hause zu fahren.

Mein Auto allerdings war weg. Rechte Schwurbler*innen und Aluhütende hatten den Abschleppdienst gerufen und meinen E-Benz vom Frauenparkplatz entfernt. Ich begann, sie zu hassen und ihnen die Omega-Plus- Corona-Virus-Mutante 174.3.7/21 an den Hals zu wünschen. Ich wurde zunehmend zum radikal-demokratisch-ethisch-wertvollen Feministierenden.

Erst in der S-Bahn fühlte ich mich wieder sicher. Die Passagierenden trugen überwiegend die brandneuen, mit Sekundenklebern ans Gesicht befestigten Dauermasken mit dem praktischen Reisverschluss für den Nahrungseinschub, einem eingebauten Plastik-Strohhalm für Getränke sowie einem Loch in Nasenhöhe zum Einführern von Teststäbchen. Es gab jene exklusiv bei der „Spahn-Import-Export GmbH“, und sie waren kostenlos, weil von der Krankenkasse kraft Verordnung des Gesundheitsministers voll erstattungsfähig. Wer sie erwarb, bekam zudem eine freie Bratwurst und zwei Booster-Impfungs-Gutscheine.

Zu Hause warteten mein 60-Zoll-Fernseher und ein Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft*in auf mich. Auf den ersten Blick gefiel mir das Spiel nicht. Aber dann schaute ich wieder tief in mich hinein, wo die sexy Koreanerin noch lauerte. Ich sah das Spiel nun mit anderen Augen.

Torwart*in Manuel Neuer tänzelte in „High Heals“ und Regenbogen-Trikot charmant auf der Torlinie hin und her. Er bekam zwar mit acht Gegentoren die Kiste voll. Dies hielt ihn aber nicht davon ab, nach jedem Gegentreffer gemeinsam mit seinen Manschaftskolleg*innen den gegnerischen Erfolg zu bejubeln und sich gratulierend auf den glücklichen Torschützen zu werfen.

Denn jedes Tor ist ja schließlich ein Erfolg, auch wenn es der Gegner schießt. Und sich so ehrlich mit dem Gegner zu freuen, das zeigt doch, was für großartige Menschen wir Deutsche sind,  und wie wir allen anderen den Sieg über uns gönnen.

Der ehemalige Bundestrainierende Jogi Löw auf der Ehrentribüne bekam vor lauter Begeisterung über das ganze Spiel hinweg die Hand nicht aus der Trainingshose. Neben ihm riss Angela Merkel bei jedem Gegentor die Arme hoch und verbrannte dann symbolisch ein Deutschland-Fähnchen. Sie wirkte gelöst.

Nur die mit 8:0 siegreiche türkische Mannschaft schien verstört. Irgendwie, so erklärten die Türken einmütig in der Pressekonferenz, fühle sich der Sieg komisch an, und sie würden eigentlich lieber gegen richtige Gegner*innen spielen. Nach einem Faktencheck über die Pressekonferenz berichtete das ZDF später in der Sportschau, die Türken hätten ihren größten Respekt vor dem unglaublichen kämpferischen Einsatz der deutschen Mannschaft ausgedrückt, und das Ergebnis hätte leicht auch anders herum ausfallen können. Deutschland war stolz auf sich.

Nach dem Spiel erklärte ich meiner eheteilenden menstruierenden besseren Hälft*in (veraltet „Ehefrau“) mein neues Lebensgefühl als gendernde Koreanerin.

Sie schaute mir zwei Minuten tief und besorgt in die Augen. Und dann kam es: „Du hast echt einen an der Klatsche. Heb deinen Hintern hoch und bring den Müll runter“. Und schwupp … da war ich wieder der alte weiße Mann, der ein Leben lang mit Liebe und Realismus von seiner Frau durch die Klippen des Alltags geführt wurde.